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T. H. White ist nicht zu fassen. Sogar am Ende seiner Bücher scheint er sich jedes Mal zu verflüchtigen. Oft hat man den Eindruck, er wäre kurz vor Vollendung abgereist, und also steht man da ratlos in einem seiner feuchten, zugigen, verlassenen Verstecke irgendwo am Ende der Welt: dem Cottage mit der großen Scheune nicht weit von Stowe oder dem Haus auf Alderney, jener der britischen Kanalinseln, auf deren Namen man immer als letztes kommt.
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Von T. H. White bleiben – außer den Büchern, die allerdings auch den Hang haben, sich fortzustehlen – Bilder wie diese: Ein Verleger, der unter einem klammen Sofakissen ein Manuskript findet, von dem White schon lange nichts mehr wissen wollte; oder seine Biografin, die, nachdem White ganz allein im Hafen von Piräus gestorben ist, das kalte Alderney-Haus betritt, um die „penibel geordneten Reihen voller Bücher über das Auspeitschen“ anzustarren, Whites Hinterlassenschaft, „so wehrlos wie ein Leichnam“.
„Und auch er war da“, schrieb Sylvia Townsend Warner (wenn auch nicht in ihrer T. H.-White-Biografie von 1967), „argwöhnisch, mürrisch und entschlossen zu verzweifeln. Ich hatte noch nie so stark das Gefühl einer bevorstehenden Heimsuchung gehabt.“
Unglücklich vom Beruf
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T. H. White hat nicht viel von den Menschen gehalten, und das schloss ihn selber ausdrücklich ein. Er war ein Tragiker und nicht nur Schriftsteller, sondern auch unglücklich von Beruf – was nicht allein an seiner Sexualität lag, mit der er nie ins Reine kam, auch wenn sich „seine lebenslange Affinität zum Spanking“ in seinem sonst nicht sehr ausführlichen deutschen Wikipedia-Eintrag bis ganz nach vorn geschlichen hat.
Andere Emanationen des Terence Hanbury White: Kolonialbeamtenkind (1906 in Bombay geboren und also so englisch, wie es im 20. Jahrhundert nur ging). Schlechter Schüler; verkrachter Student; Lehrer (der Typ Robin Williams aus „Club der toten Dichter).
Pazifist und de-facto-Kriegsdienstverweigerer; ganz und gar sonderbarer Literat, der seiner verdammten Sonderbarkeit wegen verdammt noch mal lange schon vergessen wäre, würden ihn diese verdammten Spezialisten nicht immer wieder ausgraben, weil Terence Hanbury White – Vorsicht, nerdiges Englisch! – Maßstäbe im Nature Writing und der High Fantasy und in gewisser Weise sogar in der Climate Fiction setzte (von der überhaupt erst seit ein paar wenigen Jahren die Rede ist).
H wie Habicht, W wie White
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Zuletzt tauchte er als „Mr White“ in Helen Macdonalds Nature-Writing-Bestseller „H wie Habicht“ auf. Davor kannte, wer Mr White kannte, seinen dicken Artus-Roman „The Once and Future King“. (Auf Deutsch heißt dieser Roman „Der König auf Camelot“ und niemand anders als H. C. Artmann hat die Verse darin übertragen.)
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Da liegt es nahe, dieses Buch meist als „Bearbeitung“ von Thomas Malorys „Le Morte d’Arthur“ aus dem 15. Jahrhundert zu führen, was nicht ganz falsch ist und dennoch irreführend, denn eigentlich hat T.H. White hier 16 Jahre vor Veröffentlichung des „Herrn der Ringe“ lupenreine Fantasy geschrieben.
Eine seiner schönsten Ideen: Merlin, der Gandalf dieses Spiels, lebt umgekehrt in der Zeit: Wenn wir ihm auf unserem Weg ins Alter begegnen, ist er auf dem Weg zu seiner Geburt.
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Man kann ja kaum anders, als darin einen T. H. White zu sehen, der seine seltsamen Romane aus der Zukunft hergeschleppt hat; einer Zukunft, in der man – wie White in „The Elephant and the Kangaroo“ – bitterschwarze Komödien über ein in steigenden Fluten versinkendes Irland schreibt.
Dumbeldores Vorbild
Whites Merlin übrigens ist, nach Auskunft J. K. Rowlings, zuletzt als Albus Dumbledore zurückgekehrt; im jungen Wart wiederum, aus dem bei White der König Artus wird, hat nicht nur Fantasy-Gott Neil Gaiman einen direkten Vorfahren Harry Potters gesehen. Kann man noch einflussreicher sein?
Sagen wir es (weil kaum jemand hierzulande je von T. H. White gehört hat) so: Sein Werk ist ein unterirdischer, weil lange überbauter, vertunnelter Fluss, der die wohl zukunftsträchtigsten Genres der Gegenwart speist und verbindet: das Nature Writing und die Fantasy.
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Vielleicht ist er sogar – noch eine Metapher – der Missing Link zwischen beiden. Denn was wären Tolkiens Mittelerde oder Le Guins Archipel Erdsee, wenn nicht Fantasien von einer technikfreien Natur, der der Mensch so selbstverständlich zugehört wie er mit Ents genannten Baumriesen oder den weisen Drachen in den Ruinen einer vergessenen Zukunft spricht.
Das Manuskript unter dem Sofakissen
Bei White, wie man jetzt sehen kann, folgt das eine unmittelbar auf das andere: Kurz bevor er beginnt, „Der König auf Camelot“ zu schreiben, schreibt er ein Naturbuch über den Habicht – und das ist jenes Manuskript, das sein Verleger zwölf Jahre später unter dem Sofakissen findet.
Jetzt, ein ganzes Stück zurück auf Merlins verkehrter Reise, erscheint „Der Habicht“ in hervorragender Übersetzung endlich auf Deutsch und sieht nun, zumindest auf den ersten Blick, wie ein Naturbuch von vielen aus.
Der Eindruck täuscht. Für Wohlgefühl war T. H. White nie zuständig, und mag er auch vom Mittelalter besessen gewesen sein, ein naiver Romantiker war er nicht. Und auch das groß geschriebene, das nicht menschliche Andere, dem das beste Nature Writing unserer Gegenwart gilt, war nicht das Projekt des T. H. White.
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Dafür hatte er zu sehr mit seinen eigenen Dämonen zu tun, die er sich 1936 gewissermaßen in sein Cottage in Buckinghamshire schicken ließ – aus dem verachteten Nazi-Deutschland übrigens und in Gestalt eines Habichts namens Gos.
„Erbe des Heiligen Römischen Reichs“
„Er war ein Fremder aus weit entfernten Schwarzkiefernwäldern“, schreibt White über Gos in „Der Habicht“. „Er war geboren, um zu fliegen, sich seitlich in den Wind zu neigen, frei durch das Grün des teutonischen Hochlands zu streifen, mit seinem unerbittlichen Griff zu morden und mit diesem gekrümmten persischen Schnabel zu fressen.
Derselbe Schnabel hüpfte nun irgendwie fordernd-frühreif in dem Wäschekorb auf und nieder, mit der Ungeduld eines verwöhnten und rechtmäßigen Erben des Heiligen Römischen Reichs.“
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Offiziell hat es sich White – einsam, pleite, in seinem seelischen Exil selbst zusehends verwildernd – zum Ziel gesetzt, den Habicht nach Maßgabe eines Buchs von 1619 schulmäßig abzurichten; inoffiziell jedoch ist er auf die Zähmung seiner eigenen Wildheit aus.
Psychodrama Zähmung
Wenn sein Buch also überhaupt einem anderen Klassiker des Nature Writing ähnelt, dann dem „Falken“ von J. A. Baker, in dem es auch weniger darum geht, den Falken zu verstehen, als tatsächlich selbst der Falke zu werden. T. H. White schreibt dem armen Gos von vornherein viele jener Eigenschaften zu, die er selber zu haben und rechtmäßig zu verachten glaubt.
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In Gos, daran lässt er von Anfang an keinen Zweifel, lodert der blutdurstige Wahnsinn. Doch Vorsicht: White kann sich generell nur als Scheiternder und Untergeher denken und stellt sich auch mit Vorliebe so dar: Zumindest die Hoffnung kann man haben, dass es mit ihm und seinem Habicht nicht immer ganz so schlimm gewesen ist.
Ein Psychodrama entfaltet sich dennoch (zumal eines, das, weil beim Falknern viele Lederschnüre im Spiel sind, womöglich nicht ganz frei von sexuellen Konnotationen ist).
„Bündel grünlicher Knochen“
Tage- und nächtelang trägt White den Habicht auf dem Handschuh, überfüttert ihn, weil er zwanghaft um Gos’ schönes Federkleid fürchtet und macht schließlich den entscheidenden Fehler: Der Habicht, noch beschuht und geschnürt, fliegt ihm davon.
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Einmal noch glaubt White ihn an Himmel zu sehen, „ein riesiger, ferner Drachen in einer Wolke aufgebrachter Krähen in rund acht Kilometer Distanz“, aber das ist sehr wahrscheinlich bloß eine Rettungsfantasie.
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„Leider“, schreibt White in seiner Coda zum Buch aus dem Jahr 1951, „geschehen solche Dinge im Leben wilder Greifvögel nicht. Mit absoluter Gewissheit hat sich Gos mit seinen Geschühriemen in einem der unzähligen Bäume auf den Ridings verfangen, und vielleicht wiegt sich das Bündel grünlicher Knochen und gebrochener Federn, das kopfüber an schimmeligen Lederfesseln hängt, auch heute noch sanft im Winterwind.“
Im Hafen von Piräus
T. H. White ist zwölf Jahre, nachdem er diese Coda schrieb, an Bord der SS Exeter im Hafen von Piräus an Herzversagen gestorben. Er kam gerade von einer Lesereise durch Amerika zurück. Wider Erwarten hatte er mit „Der König auf Camelot“ einen Welterfolg gelandet.
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In diesem Buch übrigens, seinem glücklichsten, erfüllt Merlin, mittlerweile Vegetarier, dem künftigen König Artus einen Wunsch: Für eine Nacht verwandelt er ihn in einen Falken. Nicht im wirklichen, aber im erfundenen Leben hat der unaufhörlich von sich selbst gepeinigte T. H. White das rettende Andere gesehen.
T. H. White: Der Habicht. Aus dem Englischen von Ulrike Kretschmer. Matthes & Seitz, 188 S., 30 €.